Formen aus Formen ausformen. Re/Produktion in der Kunst Birgit Zinners
In einem mit dem Titel „Die Schlange nagt an ihrem Schweife“ überschriebenen Eintrag in sein italienisches Reisejournal identifiziert Karl Philipp Moritz (1756-1793) das „Aneinandergrenzen des Entgegengesetzten“ als die eigentliche Signatur des Schönen. Der Vater der Autonomieästhetik erfasst mit dieser Figur ein zentrales Strukturmerkmal autonomer Kunst. Befreit vom aristotelischen Mimesispostulat und anderen kunstexternen Vorgaben ist Kunst seit dem 18. Jahrhundert – das bringt das Bild der an ihrem Schweife nagenden Schlange auf den Punkt—auf sich selbst zurückgeworfen. Kunst muss sich fortan selbst begründen, ihre Selektionen und Methoden selbst und jeweils neu legitimieren. Moritz beschreibt die Selbstbezüglichkeit autonomer Kunst als deren „Vollendung“, „dass ein Teil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird-dass es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt.“ Die Umstellung der Kunst auf Selbstreferenz hat Konsequenzen, die erst im 20. Jahrhundert zur vollen Geltung kommen. Dazu gehört die Befreiung der Kunst von ihrer Repräsentationsleistung, dass Kunst nun prinzipiell darstellen kann, was sie will, fortan also z.B. auch hässlich, unharmonisch, gar politisch engagiert oder eben abstrakt sein kann, weil nicht mehr aufgrund eines Repräsentationsverhältnisses zwischen Kunst und Nicht-Kunst unterschieden wird. Moritz registriert diese Unabhängigkeit von der externen Welt mit der abstrakten Formel vom Aneinandergrenzen des Entgegengesetzten. Mit dieser Formel – die ja auch der Idee der Vollendung, dem Gedanken der Einheit von Teil und Ganzem, Bedeutendem und Bedeutetem, Erklärendem und Erklärtem zugrunde liegt – greift Moritz auf einen Formbegriff voraus, den der britische Mathematiker George Spencer-Brown fast 200 Jahre später in seinem Klassiker Laws of Form (1969) zur Basis eines Indikationskalküls macht, der das Problem der Selbstreferentialität auf das Beobachten von Welt überhaupt bezieht. Spencer-Brown definiert Form abstrakt als Einheit einer Unterscheidung. In seinem Kalkül demonstriert er, wie die Welt grundsätzlich erst durch das Treffen von und operieren mit Unterscheidungen hervortritt und allein in dieser mit sich nicht mehr identischen Form beobachtbar wird. Die Welt, um sich zu beobachten, muss sich von sich unterscheiden, muss nicht-identisch mit sich werden, in Differenz zu sich treten, um überhaupt eine Identität erhalten zu können. Nur wo unterschieden wird, kann auch beobachtet werden. Wer das Beobachten und also Konstruieren von Welt selbst beobachten will, der stößt auf die „Form“, auf die paradoxe Einheit der Unterscheidung. Form wird also sowohl im konkreten wie auch im abstrakten Sinn als eine Grenze definiert, an der zwei durch sie unterschiedene Seiten aufeinander treffen, eine Einheit formen, ununterschieden bleiben. Spencer-Browns Formbegriff erlaubt es uns, Kunst nicht als Zeichen für etwas anderes zu verstehen—sei dies nun ein Gegenstand, eine spezifische Bedeutung, oder ein tieferer Sinn -, sondern Kunst grundlegender in ihrer Selbstbezüglichkeit zu fassen, nämlich als Setzung, als einen Umgang mit Unterscheidungen, welche erst konstruieren, was sie zu beobachten erlauben und dabei eben dieses Konstruieren, dessen Form beobachtbar machen. Damit komme ich zur Kunst Birgit Zinners. Zinners Bilder und Bildobjekte lassen sich als komplexe Auseinandersetzung mit Formen im von Spencer-Brown definierten Sinne lesen. Zinners Arbeiten erkundschaften, verschachteln, verschränken, explizieren und reflektieren Formen als Grenzen, an denen Gegensätze aufeinander stoßen und sich konkrete wie auch konzeptuelle Linien formen, welche die paradoxe Einheit der von ihnen unterschiedenen Seiten markieren. Das Auskundschaften von Formen als Grenzfiguren findet auf verschiedenen Ebenen statt, wird figürlich, farblich, aber auch materiell und konzeptionell entfaltet und dabei derart aufeinander bezogen, dass auch die Formen solcher Ebenendifferenzierungen, also die Einheit von Konzeptionellem und Materiellem, Farblichem und Figürlichem, Figürlichem und Materiellem, etc. wieder vermerkt wird. Das lässt sich beispielhaft etwa am Umgang mit der Unterscheidung von Vorder- und Hintergrund nachvollziehen. Die Figuren, aus welchen sich Zinners Arbeiten zusammensetzen, fungieren abwechslungsweise und simultan als Vorder- und als Hintergrund. Dabei geht es in Zinners Bildern nicht (wie etwa in den Bildern M.C. Eschers) um ein optisches Verwirrspiel, sondern um eine Annäherung an die Grenze zwischen beiden und um ein Schichten von Formen. So wird über die Gleichstellung von Vorder- und Hintergrund etwa auch die Unterscheidung von Fläche und Raum enggeführt. Die Bilder und noch mehr die Bildobjekte leben davon, dass der Beobachter zwischen zwei- und dreidimensionaler Wahrnehmung hin und her wechselt und versucht, beides zugleich in den Blick zu bekommen. Das Fehlen des Rahmens verstärkt diesen Effekt. Es transportiert den Rand und damit Anfang und Ende des Bildes ins Innere, kollabiert Innen und Außen und projiziert beides wieder auf die Unterscheidung von Vorder- und Hintergrund. Der Beobachter findet sich in Folge immer schon zugleich am Rand und im Innern des Bildes wieder. In den Bildobjekten rückt dabei besonders deutlich der Hintergrund als Hohlraum in den die Figur konstituierenden Vordergrund. Anders ausgedrückt, die leere Fläche emanzipiert sich von der materiellen Form, die sie umrahmt. Das Gegenständliche wird entleert, die Leere zum materiell Gegebenen. Es gibt Bildobjekte, die diesen Effekt noch einmal steigern, indem sie mit Spiegeln arbeiten, welche es ermöglichen, das Bildobjekt simultan von vorne und von hinten zu beobachten und damit noch einmal Zwei- und Dreidimensionalität ineinander verschränken. In verschiedenen Bildern und Drucken wird in vergleichbarer Weise die Unterscheidung zwischen Ein- und Zweidimensionalität thematisiert, nämlich über ein konzises Ausloten der Grenze zwischen Linie und Fläche, das der Frage nachspürt, wann die Linie selbst zur Fläche, die Fläche aber zur Linie wird bzw. wie das eine durch das andere erst konstituiert wird. Der Punkt dieser Formkonstellationen ist nicht, dass eine der beiden Seiten, die durch die Form unterschieden wird, gegen die andere ausgespielt würde, sondern dass der Beobachter eingeladen wird, sich auf beide Seiten zu begeben und die durch die Unterscheidung markierten Grenzen visuell, körperlich und konzeptuell zu erkunden. So entpuppt sich auch das ornamentale Element ihres Werkes – eine Folge der Gleichstellung von Vorder- und Hintergrund – als komplexe meta-artistische Reflexion der für die bildende Kunst zentralen Unterscheidung zwischen konkreter Raumgestaltung und figurativer Raumdarstellung. Das Ornamentale der Kunst Zinners ist nicht dekorativ, verhüllt nicht einen vorgegebenen Raum oder sich darin befindende Gegenstände, sondern organisiert Raum, Materie und Form. In ihrer Gegenüberstellung von organisiertem und figurativem (repräsentiertem) Raum streben die Arbeiten Zinners danach, Bild und Objekt zugleich zu sein. Damit werden nicht nur interessante Beobachtungsperspektiven eröffnet, sondern es wird auch auf die Abhängigkeit des Figürlichem vom materiell-konkretisierten Raum—und damit vom Medium seiner Konkretisierung—hingewiesen. Dieses Insistieren auf die Konkretisierung von Raum erklärt, warum Birgit Zinner bisher nicht mit Computern gearbeitet hat und die Limitationen fotographischer Wiedergaben ihrer Werke beklagt. Ihre Bilder und Bildobjekte erschöpfen sich nicht im virtuellen Raum. Mit der dritten Dimension verlieren die Objekte an Vielschichtigkeit und erschweren es, die materiellen Bedingungen ihrer Konstitution zur Darstellung zu bringen. Man darf das auch als gesellschaftlichen Kommentar interpretieren. Mit ihrer Insistenz auf das Räumlich-Materielle kommentieren die Arbeiten Zinners eine im Fernseh- und Computerzeitalter intensivierte Auflösung des Dinghaften in der Zweidimensionalität des Bildschirms und weisen auf den Komplexitätsverlust solcher Repräsentierweisen hin.
Re/Produktion
Das Materielle ist für die Kunst Zinners nicht nur wegen der Vielschichtigkeit, die es ermöglicht, bedeutend, sondern auch eine entscheidende Determinante des Kunstproduktionsprozesses. In Zinners Werk nimmt die Auseinandersetzung mit den eigenen Produktionsbedingungen eine zentrale Rolle ein. Auch dabei wird ein Problem vertieft, das sich der Kunst seit ihrer Autonomisierung im 18. Jahrhundert prinzipiell stellt. Die Selbstbezüglichkeit autonomer Kunst bedingt nämlich, dass Kunst nicht nur nicht mehr adäquat beschrieben werden kann, sondern im strikten Sinne auch nicht mehr planbar ist. Autonome Kunst kann nicht schon vor seiner Konkretisierung existieren. Jedenfalls können die Pläne, Ideen und Vorstellungen des Künstlers nicht mit dem fertigen Kunstprodukt identisch sein bzw. allein aus diesen hervorgehen, wenn Kunst tatsächlich autonom, als eine eigene Kommunikationsform gedacht werden soll. Bis weit ins 20. Jahrhundert noch wird das Problem der Unplanbarkeit autonomer Kunst über paradoxe Geniekonzepte verschleiert, welche davon ausgehen, dass das Kunstwerk irgendwie eben doch schon eine Existenz vor seiner eigentlichen Existenz habe (bei Moritz etwa als unbewusstes Bewusstsein des Künstlers, oder als ein von der Natur geleiteter Kunsttrieb). Vom Mythologem des Genies ist man heute im Allgemeinen abgerückt (allerdings ist der Geniegedanke fürs Marketing von Kunst immer noch bedeutend). An dessen Stelle rückt die bewusste Auseinandersetzung mit dem Produktionsprozess. Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann spricht diesbezüglich von der „Selbstprogrammierung“ moderner Kunst, dass ein Kunstwerk erst in seiner Entstehung ein für es gültiges Programm (Selektionskriterien) entwerfen kann, welches darüber entscheidet, was in der Herstellung bzw. Rezeption des Werkes als notwendig, wichtig, interessant und anschlussfähig erscheint. So können sich erst in der konkreten Arbeit mit und an der Materie Entscheidungen und Selektionen zu einer künstlerisch prägnanten und stilistisch relevanten Ausdrucksform verdichten. Das bedeutet nicht, dass Künstler in einem Vakuum arbeiten würden. Vielmehr prägen den Produktionsprozess eine Serie von Spannungen, die sich zwischen der einzelnen Arbeit, dem Werk, den Ideen, Fähigkeiten und Erfahrungen des Künstlers und den Erwartungen des Kunstsystems auftun. Zentral ist dabei der schon seit dem 17. Jahrhundert gültige Anspruch an Kunst neu und originell zu sein, der sich immer wieder an der Erwartung reibt, dass jede Arbeit und jedes Werk zugleich auch „familiär“, also bekannt, anschlussfähig und stilistisch identifizierbar sein muss. Das künstlerische Schaffen könnte vielleicht als Tanz auf der durch diese gegensätzlichen Anforderungen gebildeten Grenze beschrieben werden. Die Herausforderung des künstlerischen Aktes besteht darin, die Arbeit selbst zur Sprache kommen zu lassen (ihre „Selbstprogrammierung“ zu ermöglichen), dabei ein Gespür für Neues, Originelles, Interessantes zu zeigen, ohne jedoch den Bezug zur Identität des eigenen Werkes oder zum Kunstsystem allgemein zu verlieren. Birgit Zinner beschreibt diese Herausforderung als den permanenten Versuch, immer wieder an und über die eigenen Grenzen zu gelangen, ohne dabei jedoch im Nichts, im „Beliebigen“ zu enden. Autonome Kunst, auch das kommt erst im 20. Jahrhundert voll zum Ausdruck, bedingt die konstruktive Auseinandersetzung mit dem Kontingenten (im aristotelischen Sinne, also mit dem, was möglich aber nicht notwendig ist). Die selbstreferentielle Geschlossenheit autonomer Kunst besagt ja nichts anderes, als dass das einzelne Kunstwerk jeweils selbst die Notwendigkeit seiner ansonsten kontingenten Selektionen motivieren muss. Während Kunstdefinitionen im 18. Jahrhundert noch von einer kompletten Übersetzung des Kontingenten ins Notwendige ausgingen (für Moritz muss im Grunde jeder Teil durch den anderen und eben „das Ganze durch sich selber“ bedeutend werden), und dagegen viele Performance-Künstler der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts auf das Gegenteil, ganz auf Kontingenz bzw. auf das Kontingent-Machen des scheinbar Notwendigen setzten, geht es in Zinners Kunst zentral darum, dem Kontingenten eine Notwendigkeit abzugewinnen, ohne dabei jedoch das Moment der Kontingenz als Neuerung, Unregelmäßigkeit und Idiosynkrasie zu verlieren. Zinners Kunst ringt auch hier um das Sichtbarmachen des Aneinandergrenzen des Entgegengesetzten, um die Darstellung der Einheit der Unterscheidung von Kontingenz und Notwendigkeit, und zwar sowohl mit Bezug auf einzelne Arbeiten wie mit Bezug auf ihr Werk als (offenes) Ganzes. Zinner arbeitet konstant mit Restmaterialien, formt neue Formen aus übriggebliebenen Teilen. Solche aus früheren Arbeiten entstandenen Figuren sind kontingente Überbleibsel, die dennoch in einem notwendigen Verhältnis zum „Original“ stehen. Wenn sie zur Grundlage neuer Arbeiten herangezogen werden, stehen sie immer schon in Beziehung zur vorhergegangenen Arbeit, führen diese weiter, kommentieren diese, rücken sie aber auch in ein verändertes Licht und ermöglichen damit neue Sichtweisen und neue Konstellationen zwischen den verschiedenen Arbeiten. Dabei wird das Verhältnis von Original und Variation neu definiert. Man könnte von Negativvariationen sprechen, die das einmal Kontingente (was in der ersten Iteration übrig blieb bzw. weggefallen war) in einen künstlerisch notwendigen Zusammenhang bringt, zu neuen Figuren und Formen umgestaltet, die nun in ein dialogisches und emanzipiertes Verhältnis zum „Original“ treten können und dessen Figuren wiederum einen neuen Kontext geben. Zinners Arbeiten sind in diesem Sinne konstant in Bewegung. Jede Serie, jede Spiegelung, jede Variation und Negativvariation kommentiert und verändert vorangegangene Arbeiten, in dem sie deren Kontext neu definiert und neue Konstellationen und neue Anknüpfungspunkte ermöglicht. So können kleine Bilder über serialisierte Variationen zu großen Arbeiten ausgebaut werden, die sich wieder zerlegen lassen oder deren Restmaterialien Anstoß für neue Figuren, für neue Variationen geben können. Kontinuität ist dabei nur in der Form fortgesetzter Diskontinuität möglich, als Differenzierungsprozess, der immer wieder das Gegebene bestätigt, in dem er es negiert, d.h. in ein Neues, Anderes, Differentes umwandelt. Daher ist Zinners Kunst im strikten Sinne nicht berechenbar. Obwohl auf den ersten Blick viele der Bilder eine Ordnung, gar Harmonie in ihren Figurenkonstellationen nahe legen, zeigt sich bei genauerem Hinsehen schnell, dass scheinbare Ordnungen ständig unterwandert, gebrochen, gestört werden. Zinners fortgesetzte Beschäftigung mit ihren eigenen Arbeiten darf deshalb in einem doppelten Sinne als de-konstruktiv bezeichnet werden. In ihren Iterationen stellt ihre Kunst sowohl die Reversibilität und gegenseitige Abhängigkeit von Hierarchien -die Einheit von Unterscheidungen -, also auch die Spur der Differenz und Veränderung, welche jeder Wiederholung eingeschrieben ist, heraus.
Für Birgit Zinner sind die primären Kontingenzlieferanten die zu bearbeitende Materie sowie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Zinner zieht immer wieder neue Materialien, neue Bearbeitungsmethoden, neue Präsentationsmedien herbei. Dabei geht es darum, die durch den Wechsel des Mediums ermöglichte Generierung neuer Formen zu erkundschaften. Neues Material führt zu neuen Gestaltungsmöglichkeiten, auch zu neuen Einschränkungen, zu technischen und konzeptuellen Grenzen, welche es zu ermitteln gilt. Solche nicht vorhersehbaren Anstöße und Grenzziehungen gehen auch vom eigenen Körper aus. Zinner versucht ganz bewusst – wenn auch nicht wie andere Künstler öffentlich, sondern im Atelier – über Experimente mit dem eigenen Körper, über selbst auferlegte Beschränkungen, ungewöhnliche Bewegungsabläufe, Tanzgebärden, Perspektivenwechsel, etc. sich dem Punkt zu nähern, wo Neues, konzeptuell nicht Planbares entsteht, wo Andersartigkeit dem Körperlichen entlockt und zur Entwicklung dem Kunstwerk angeeignet werden kann. Das Aufgreifen der materiellen und körperlichen Impulse setzt höchste Konzentration voraus. Zinner vergleicht ihre Arbeitsweise mit künstlerischer Improvisation, einem unvorhersehbaren Tun, das (sich) überraschen will. Improvisation setzt nicht nur ein hohes Maß an Konzentration und Anspannung voraus, sondern auch ein Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen. Während die Materie und der Körper als Kontingenzlieferanten fungieren, dient die Orientierung am eigenen Werk, an den vorhergegangenen Arbeiten dazu, Notwendigkeit zu etablieren. Auch hierbei handelt es sich nicht um einen linearen Prozess. Denn die existierenden Arbeiten bestimmen ja nicht nur, was anschlussfähig, vertraut, stimmig ist, sondern setzen zugleich auch die Grenzen, welche überschritten werden müssen, damit es zu Neuerungen, Erweiterungen, neuen Sicht- und Reflexionsweisen kommen kann. Die Arbeiten Zinners sind deshalb nie abgeschlossen, das heißt, sie bleiben produktiv als Formenfundus, auf den man immer wieder zurückgreifen, den man erweitern, überwinden kann. Das sprengt den klassischen Werkbegriff. Zinner spricht dagegen vom Erreichen eines „Saturationspunktes“, der zu einem bestimmten Zeitpunkt eine weitere Bearbeitung weniger dringlich erscheinen lassen. Die permanente Re/Produktion von Formen aus Formen trägt einem Charakteristikum autonomer Kunst Rechnung, das sich aus deren „Unbeschreibbarkeit“ (Moritz) ableitet, nämlich die Unabschließbarkeit der Rezeption moderner Kunst. Kunst, eben weil sie nicht adäquat beschreibbar ist, eben weil sie einen in sich geschlossenen Verweisungshorizont etabliert, eine eigene (Formen-)Sprache entwickeln muss, stimuliert immer wieder neue Beschreibungen, neue Auseinandersetzungen, neue Interpretationen, neue Sicht- und Verstehensweisen. Mit dem fortgesetzten Ausformen neuer Formen aus bestehenden Formen zieht Zinner das Rezeptionsparadox autonomer Kunst, dessen Unabschließbarkeit, in den Produktionsprozess selbst hinein. Ihre Arbeiten organisieren und demonstrieren die Produktion neuer Formen aus deren Rezeption.
Die Form des Katalogs
Mit dem vorliegenden Katalog präsentiert Birgit Zinner eine Auswahl von Arbeiten, an denen exemplarisch ihre Beschäftigung mit Figuren und Formen und dem Ausformen von Formen aus Formen nachvollzogen werden kann. Dabei stehen der Produktionsprozess sowie die durch die Gegenüberstellung der Arbeiten gewonnenen Interferenzen im Zentrum des Interesses. Das bedingt auch in diesem Fall eine Auseinandersetzung mit dem spezifischen Medium der Präsentation ihrer Arbeiten, nämlich mit den spezifischen Möglichkeiten und Grenzen, welche das Medium „Kunstkatalog“ eröffnet bzw. zieht. Der vorliegende Katalog ist also nicht als eine Anhäufung von Abbildungen zu verstehen, sondern als bewusste Beschäftigung mit der Form des Kunstkatalogs selbst. Ein Kunstkatalog unterscheidet und markiert als seine Form die Einheit von Kunstproduktion und Kunstrezeption. Das heißt, der Kunstkatalog ist weder noch und doch beides zugleich. Traditionell präsentiert er „nur“ Bilder von zuvor produzierten Werken, um sie der Rezeption durch die Betrachter bzw. Leser des Katalogs zu überlassen. Birgit Zinner möchte mit diesem Katalog aber die produktiven und rezeptiven Seiten des Mediums hervorheben bzw. nutzen. Denn Kataloge können selbst als Re/Produktionen verstanden und organisiert werden und zwar ganz im Sinne der Arbeiten Zinners. Sie stellen Selektionen dar, schaffen Gegenüberstellungen, verschränken Vorder- und Hintergrund und bringen dadurch selbst neue Formen hervor; und sind zugleich bemüht, den Rezeptionsprozess durch die Auswahl, Ordnung und Thematisierung der Bilder wie auch durch Namen, Kommentare und einleitende Texte (wie diesen) zu steuern. Dabei gilt es die Kontingenz des Mediums, was die Auswahl, Reproduktion der Bilder und die Möglichkeiten ihrer Gegenüberstellung betrifft, selbst künstlerisch produktiv zu machen, in dem man sich dessen Grenzen nähert und auch versucht, diese zu überschreiten. Das ist als Herausforderung zu lesen, die sich nicht nur der Künstlerin, sondern mehr noch dem Betrachter bzw. der Betrachterin des Katalogs stellt: Die Vielschichtigkeit seiner Formen, die möglichen Konstellationen und Interferenzen, die immer neuen Kontextualisierungsmöglichkeiten auch über die lineare Ordnung der Seiten hinweg zu erkunden und damit die Re/Produktion der Arbeiten Zinners fortzusetzen.
iKarl Philipp Moritz, Werke in zwei Bänden, Heide Homer und Albert Meier (Hg.), Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1997; Bd. II, S.747.
iiIbid; Bd. II, S.994.
iiiSiehe Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996; S.301-340.
ivAussagen der Künstlerin zu ihrem Werk und ihrer Vorgehensweise sind einem längeren Gespräch entnommen, das ich am 13.6.2008 mit ihr in ihrem Atelier in Wien führte.